Interviews

Stolpersteine, Rückfälle und sonstige Schwierigkeiten

Rede und Antwort steht Ihnen ein hochkarätiges Experten-Quartett, bestehend aus:

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Stolpersteine, Rückfälle und sonstige Schwierigkeiten

Was geschieht, wenn ein Suchtkranker den Entzug vorzeitig abbrechen möchte?

Frau Dr. Mahlmeister
Wenn Patienten den Entzug vorzeitig abbrechen möchten, müssen zunächst die Abbruchgründe ermittelt werden. In den meisten Fällen ist der Suchtdruck zu hoch, manchmal können aber auch soziale Gründe vorliegen. Wichtig ist es, einen Weg zu finden, um den Betroffenen mental aufzufangen. Bei erhöhtem Suchtdruck können beispielsweise die Medikamente umgestellt oder die begleitenden Therapien verändert bzw. ergänzt werden. In einigen Fällen kommen beim Suchtkranken Probleme oder Situationen hoch, die selbst für ihn unerwartet sind und einen veränderten therapeutischen Umgang erfordern. Im Nachhinein sind die betreffenden Personen meist froh, dass die Krise während des Entzugs aufgetreten ist und nicht, wenn sie alleine auf sich gestellt sind. Insgesamt können wir die allermeisten Patienten mit Motivationskrisen gut auffangen und zur Beendigung des Entzugs motivieren. Sollte dies nicht gelingen, kann die Klinik natürlich jederzeit verlassen werden.

Was sind die Gründe für vorzeitige Therapieabbrüche in Ihrer Tagesklinik?

Herr Dipl. Psych. Winter
Ein Großteil unserer Teilnehmer absolviert die Behandlung regulär bis zum Ende. Kommt es zu nicht offen kommunizierten oder wiederholten Rückfällen während der Entwöhnungstherapie, muss die Behandlung vorzeitig beendet werden. Gleiches gilt, wenn die Reha-Ziele nicht zusammenpassen – beispielweise, wenn ein Patient auch nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema weiter (kontrolliert) konsumieren möchte und dies nicht mit dem Abstinenzziel unseres Behandlungsprogramms vereinbar ist. Sollte das tagesklinische Setting einmal nicht ausreichen, z.B. wenn noch zu viele Belastungsfaktoren im Alltag bestehen, helfen wir auch bei der Umwandlung in stationäre Reha-Maßnahmen.

Wie motivieren Sie Patienten, die aufgrund mehrerer Entzugsversuche verzweifelt sind?

Frau Dr. Mahlmeister
Rezidive sind kein Versagen seitens des Patienten; nur die Allerwenigsten schaffen den Weg aus der Suchtspirale auf Anhieb. Durch das Suchtgedächtnis ist die Abhängigkeit von einer bestimmten Substanz eine chronische Krankheit, die mit Fallen und Aufstehen verbunden ist, aber bei stabiler Abstinenz dennoch eine hohe Lebensqualität bieten kann. In diesem Sinn sind Rückfälle als „Vorfälle“ zu betrachten, aus denen die Betroffenen auf dem Weg zur Enthaltsamkeit lernen und ihre eigene Resilienz aktivieren können. Auch wenn ein oder mehrere Entzüge nicht zum gewünschten „Erfolg“ geführt haben und vorzeitig abgebrochen wurden, handelt es sich nicht um ein Scheitern. Schließlich ist die Sucht so bunt wie wir Menschen, und es gibt nicht den einen goldenen Weg, der alle Betroffenen zur lebenslangen Abstinenz führt. Vielmehr muss analysiert werden, was während der Behandlung nicht funktioniert hat und in einer weiteren Entzugstherapie besser gemacht werden kann. Ärzte und Therapeuten müssen sich mit Fingerspitzengefühl und Empathie in den Suchtkranken hineinversetzen und den für ihn besten Behandlungsweg ermitteln. Dies gilt im Grunde für jedes Krankheitsbild, ist aber bei einer Sucht, die in alle Bereiche des Lebens eingreift, ganz besonders wichtig. Schließlich kann gerade ein bestimmter Aspekt ausschlaggebend für das Gelingen der Abstinenz sein und diese bei einer Nichtbeachtung zum Kippen bringen. Obwohl der Weg aus der Sucht für die meisten Betroffenen mit vielen Stolpersteinen und Lebenskrisen verbunden ist, führt die Krankheit zu innerer Stärke und zur Auseinandersetzung mit sich selbst. Die Suchtkranken entdecken Facetten und Bereiche an sich selbst, die ohne die Abhängigkeit nie zum Vorschein gekommen wären, so dass die Erkrankung im gewissen Sinne zur Bereicherung werden kann.
Herr Dipl. Psych. Winter
Es gilt, die Ressourcen, Stärken und früheren Erfolgserlebnisse des Patienten hervorzuheben und ihm Mut für den Weg in die Abstinenz zu vermitteln. Auch die Erarbeitung von Lebenszielen und Motiven für den Wunsch nach Veränderung spielen eine wichtige Rolle. Hierbei gehört die motivationale Gesprächsführung zu den wesentlichen Aspekten der Suchtmedizin und wird erfolgreich in Behandlungseinrichtungen sowie auf dem Weg in eine Behandlung in den Suchtberatungsstellen angewendet.

Wie sollten sich die Betroffenen bei einem Rückfall verhalten?

Frau Dr. Mahlmeister
Rückfälle gehören zum Wesen einer Sucht und erfordern eine schnelle Reaktion. Die Betroffenen sollten sich daher sofort in eine Klinik begeben, um weiteres Trinken zu verhindern. Bei einem einmaligen Rückfall ist in der Regel keine weitere Entgiftung notwendig, viel wichtiger ist eine professionelle psychotherapeutische Betreuung. In vielen Privatkliniken werden zu diesem Zweck Auffrischungstherapien angeboten. In öffentlichen Einrichtungen besteht die Möglichkeit, sich um einen Platz auf einer psychiatrischen Kriseninterventionsstation zu bemühen. Falls dies nicht möglich ist, sollte der Betroffene auf keinen Fall alleinbleiben, sondern seine Vertrauenspersonen bzw. Notfallnummern kontaktieren und den behandelnden Arzt informieren.
Herr Dipl. Psych. Winter
Wichtig ist es, nicht in Schuldgefühle und entsprechende Gedanken („Ich habe versagt“) und Fatalismus („Jetzt ist es eh zu spät“) zu verfallen und weiter zu konsumieren, sondern den Rückfall zu akzeptieren und den Konsum, schnellstmöglich zu stoppen. Dabei ist es wichtig, sich frühzeitig Hilfe zu suchen. Je kürzer der Rückfall, desto größer sind die Chancen, wieder aufzuhören und weitere Folgeschäden zu vermeiden.

Weshalb ist ein Entzug auch trotz eines Rückfalls erfolgreich?

Herr Prof. Dr. Kiefer
Rückfälle sind typisch für das Krankheitsbild und lassen sich nicht immer vermeiden. Dennoch ist ein Entzug deshalb nicht gescheitert, denn längere abstinente Phasen stärken die Gesundheit, vermitteln Lebensqualität und erhöhen die Lebenserwartung. Die Betroffenen kommen zum Teil in einem desolaten Zustand in die Klinik, werden stabilisiert und sind bis zum nächsten Rückfall in einem gesunden Zustand. In der Zeit zwischen zwei Rezidiven können sie ihren Job ausüben und das Familienleben genießen. Wichtig ist es, sich nicht entmutigen zu lassen und die Abstinenz bei einem Rückfall immer wieder anzustreben.

Wie kann sich ein Rückfall auf das Trinkverhalten auswirken?

Herr Prof. Dr. Kiefer
Ein Abstinenzbruch kann das Trinkverhalten auf zweierlei Art und Weise beeinflussen. So kann durch ein Glas Bier oder Wein entweder ein Kontrollverlust getriggert werden, so dass der Konsum direkt fortgesetzt wird, oder es bleibt bei dem einen Glas. In diesem Fall wiegt sich der Betroffene häufig in Sicherheit und trinkt immer öfter, da es beim ersten Mal ja so gut geklappt hat. Über kurz oder lang führen diese einzelnen kleinen Rückfälle allerdings erneut zum regelmäßigen Trinken und zur gewohnten Trinkmenge.

Wie kann man Rückfälle verhindern?

Herr Dipl. Psych. Winter
Ausschlaggebend für einen Rückfall ist oft das temporäre Verlangen nach einer Substanz, verbunden mit dem Wunsch nach einer bestimmten Substanzwirkung, z.B. Erleichterung in einer Belastungssituation oder auch im Rahmen guter und ausgelassener Stimmung. Wird dieser Zeitraum überstanden, ohne den Handlungsdrang nach Konsum auszuführen, lässt das Verlangen meist innerhalb von 20 bis 30 min nach, auch ohne Konsum. Es ist also wichtig, bereits im Vorfeld Strategien zu entwickeln, die in kritischen Situationen helfen, nicht zu konsumieren (Notfallplan). Dazu zählen vor allem Gespräche mit Notfallkontakten, die Bewusstmachung weiterer Konsequenzen des Konsums und die Anwendung von Skills (z.B. den Ort verlassen, Bewegung, viel Flüssigkeit trinken). Wurde das Verlangen konsumfrei bewältigt, lassen sich – bei nachlassender physischer und psychischer Anspannung – auch die Hintergründe besser erörtern und Probleme anders lösen. Jedes konsumfrei überstandene Verlangen hilft dabei, alternative Wege zu stärken und insgesamt lässt die Intensität und Häufigkeit des Verlangens bei zunehmender Abstinenzdauer ab.

Was bringt die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe?

Frau Dr. Mahlmeister
Neben dem Besuch eines Nachsorgetherapeuten ist die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe eine wichtige Maßnahme, um ein Rezidiv zu verhindern. Der Austausch mit anderen Betroffenen sorgt dafür, dass die Abhängigkeitserkrankung und die zwingend erforderliche Abstinenz immer im Bewusstsein bleiben. Im Gegensatz zur klassischen Nachsorge, die nach und nach ausläuft, sollte der Besuch einer Selbsthilfegruppe dauerhaft in den Alltag integriert werden.
Herr Dipl. Psych. Winter
Die regelmäßige Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe ist nicht durch Kostenträger limitiert und kostenneutral, so dass auch ein Besuch über einen langen Zeitraum möglich ist. Eine konstruktive Beschäftigung mit dem Thema Konsum und Abstinenz, die konsumfreie Bewältigung von Problemen und der Umgang mit Lebensveränderungen wie z.B. Umzug oder Trennung können thematisiert werden, so dass Rückfällen vorgebeugt werden kann. Es hat sich außerdem gezeigt, dass Teilnehmer von Selbsthilfegruppen häufiger ganz abstinent leben und – was auch besonders wichtig ist – bei Rückfällen seltener wieder in alte Konsummuster rutschen, sondern es schneller schaffen, den Rückfall zu stoppen und zur Abstinenz zurückzukehren.