Experteninterviews

Experten antworten zum Thema Sucht

Rede und Antwort steht Ihnen ein hochkarätiges Experten-Quartett, bestehend aus:

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Die neue Beitragsreihe des Suchtportals

Abhängigkeitserkrankungen sind durch das Suchtgedächtnis Krankheiten fürs Leben, die nur durch eine konsequente Abstinenz bewältigt werden können. Der Weg dorthin verläuft individuell und ist mit vielen Stolpersteinen, aber auch zahlreichen Fragen verbunden. Die wichtigsten davon beantworten wir Ihnen in unseren Experteninterviews.

Weshalb ist Sucht eine Krankheit und keine Charakterschwäche?

Herr Prof. Dr. Kiefer
Eine Sucht ist auf keinen Fall eine Charakterschwäche; es gibt keine Persönlichkeitseigenschaft, die jemanden zur Sucht prädisponiert. Im Verlauf der Suchterkrankung erleben Suchtkranke ihr Verhalten als schädigend und möchten damit aufhören; schaffen dies allerdings oft nicht ohne professionelle Hilfe. Immer wieder fallen sie in bestimmte Konsummuster zurück, so dass sie sich der Krankheit oft hilflos ausgeliefert fühlen. Dazu kommen der fatale medizinische Verlauf und die zwingend erforderliche Behandlungswürdigkeit einer Abhängigkeitserkrankung.

Wer ist besonders gefährdet, eine Sucht zu entwickeln?

Herr Prof. Dr. Kiefer
Da es keine bestimmte Suchtpersönlichkeit gibt, kann im Grunde jeder Konsument suchterzeugender Substanzen in eine Abhängigkeitserkrankung rutschen. Die Gefahr der Suchtentwicklung steigt mit der Menge und der Häufigkeit des Konsums, wird allerdings durch bestimmte Risikofaktoren beeinflusst. Dazu zählen in erster Linie ein konsumfreudiges soziales Umfeld, die Verfügbarkeit des Suchtmittels und psychosoziale Konsumgründe. Dies gilt in besonderem Maße für den Gebrauch von Alkohol, der gesellschaftlich anerkannt und im Gegensatz zu illegalen Drogen und verordnungspflichtigen Medikamenten ab einem Lebensalter von 16 bzw. 18 Jahren nahezu überall erhältlich ist. Sobald er konsumiert wird – beispielsweise um Ängste zu verringern oder um besser entspannen zu können – ist das Risiko für eine Gewöhnung erhöht. Dazu kann eine familiäre Disposition kommen bezüglich der Verträglichkeit des Suchtmittels, der positiv oder negativ erlebten Wirkungen.

Wie genau entsteht eine Abhängigkeitserkrankung?

Herr Prof. Dr. Kiefer
Besonders die Alkoholsucht beginnt oft meist bereits im Jugendalter, in dem junge Menschen bestimmte Bewältigungsstrategien ausprobieren, die später zur Gewohnheit werden. Da der Konsum gesellschaftlich vorgelebt wird, scheint es für Jugendliche und junge Erwachsenen oft sehr naheliegend, Alkohol im Familienkreis oder gemeinsam mit guten Freunden zu trinken, um weniger ängstlich oder fröhlicher zu sein. Geschieht dies häufiger und irgendwann regelmäßig, kann sich durch den vermeintlich harmlosen Konsum langfristig eine Abhängigkeitserkrankung entwickeln. Dieser Kreislauf lässt sich durch eine umfangreiche Prävention verhindern, in der die Alkoholverfügbarkeit reduziert wird, den Jugendlichen etwas Attraktiveres angeboten wird, als zu trinken und die Öffentlichkeit – ähnlich wie beim Tabakkonsum – über die Gefahren von Alkohol informiert wird. Dann besteht die Chance, dass in der nächsten Generation weniger Jugendliche trinken und alkoholabhängig werden.

Inwiefern ist Sucht ein Lernprozess?

Herr Prof. Dr. Kiefer
Eine Abhängigkeit entwickelt sich nicht von heute auf morgen, sondern schleichend – oft über Jahre hinweg. Jeder einzelne positive Konsum erhöht die Motivation, diese Wirkung erneut zu erleben, bis sich dieses Verhalten irgendwann derart verfestigt hat, dass es nicht mehr verlernt wird. Die Wirkung des Alkohols auf bestimmte Hirnstrukturen bei diesem Lernprozess ist ähnlich wie das Liken in der Facebook Community. So erzeugt Alkohol bei jedem Kneipenbesuch, jedem Trinken mit Freunden und jedem Feierabendbier ein „Gefällt-mir“, das auch die Menschen und die jeweilige Umgebung miteinbezieht. Auf diese Weise rücken die Kneipe um die Ecke und die Trinkfreunde immer mehr in den Vordergrund, so wie bei Facebook die Beiträge von Personen und Gruppen, die bereits Likes erhalten haben, bevorzugt gezeigt werden. Das Suchtmittel gewinnt so immer mehr Bedeutung im Leben des Abhängigen, andere Interessen rücken in den Hintergrund. Diese zunehmende Präferenz für alles, was mit dem Alkoholkonsum verknüpft ist, gehört zu den 6 diagnostischen Kriterien einer substanzgebundenen Abhängigkeit, die im ICD-10 der WHO festgelegt sind.

Lässt sich eine Sucht wieder verlernen?

Herr Prof. Dr. Kiefer
Über Jahre hinweg entstandene Gewohnheiten lassen sich nur schwer völlig ablegen. Das gilt ebenfalls für eine Suchterkrankung und die damit einhergehenden Kognitionen und Verhaltensweisen, die bei einer stabilen Abstinenz zwar in den Hintergrund rücken, durch das entstandene Suchtgedächtnis aber jederzeit wieder reaktiviert werden kann. Oft reicht ein bestimmter Trigger, um erneut ein Suchtverhalten auszulösen.

Welchen Einfluss nimmt Corona auf das Leben suchtkranker Menschen?

Frau Dr. Mahlmeister
Corona hat sowohl einen positiven als auch einen negativen Effekt auf unsere Patienten. Je nach Lebenssituation finden einige Betroffene durch den Lockdown die Zeit, endlich den Entzug durchzuführen, den sie bereits länger vorhatten. Andere wiederum nutzen die Zeit, um sich kritisch mit sich selbst und ihrem Substanzkonsum auseinanderzusetzen und somit einen ersten Schritt in Richtung Abstinenz zu unternehmen. Umgekehrt erschwert die aktuelle Situation das Leben vieler Suchtkranker, da stabilisierende Strukturen – beispielsweise der Besuch einer Selbsthilfegruppe und der Austausch mit guten Freunden – wegfallen. Das „Auffangnetz“ funktioniert also nur eingeschränkt. Insgesamt ist der Konsum von Alkohol durch die Corona-Krise und die allgemein angespannte Lage gestiegen, so dass es viele Personen gibt, die vom missbräuchlichen Konsum in die Alkoholsucht abgerutscht sind.

Welche Substanzen machen überhaupt abhängig?

Frau Dr. Mahlmeister
Die meisten Menschen denken bei einer Abhängigkeit zunächst an Alkohol und Drogen wie Kokain, Amphetamine, Heroin und Cannabis, wobei das Spektrum illegaler Drogen weitaus größer ist. So kommen in unsere Klinik auch Patienten, die von Liquid Ecstasy (GHB) oder dem verwandten GBL abhängig sind, das als Lösungs- und Reinigungsmittel eingesetzt wird, z.B. als Felgenreiniger. Ebenso abhängig machen können synthetische Kräutermischungen, die sogenannten Legal Highs, oder halluzinogene Pilze mit den Wirkstoffen Psilocybin oder Psilocin, deren Wirkung meist im Rahmen einer Amphetamin-Abhängigkeit ausprobiert wird. Weitere Substanzklassen mit Suchtrisiko sind medizinische Wirkstoffe, die auf das zentrale Nervensystem einwirken. Dazu gehören in erster Linie Sedativa wie Benzodiazepine oder Z-Substanzen, darunter Oxazepam, Diazepam, Lorazepam (Tavor®), Zolpidem und Zopiclon. Ebenso können opioide Schmerzmittel wie Oycodon, Morpin, Piritramid (Dipidolor®) oder Fentanyl eine Sucht auslösen. Dies gilt nicht nur für die Verabreichung als Tablette oder Injektion, sondern auch für die Verwendung als Schmerzpflaster. Diese enthalten selbst nach der Entfernung von der Haut eine derart hohe Menge des Opioids, das unachtsam entsorgte Pflaster von einigen Opioidabhängigen aufgekocht und als Lösung injiziert werden. Lange umstritten in Sachen Suchtpotenzial war Pregabalin, ein antiepileptischer Wirkstoff, der bei neuropathischen Schmerzen und zur Reduzierung von Opiatentzugserscheinungen eingesetzt wird. Mittlerweile gilt es als erwiesen, dass die Substanz eine Abhängigkeit hervorrufen kann und daher nur nach einer sorgfältigen Nutzen-Risiko-Abwägung eingesetzt werden sollte.

Ab wann wird Alkoholkonsum kritisch?

Herr Dipl. Psych. Winter
Kritisch wird ein Konsum, wenn er nach und nach zu einer Gewohnheit wird und die Alkoholmenge nicht mehr körperlich unbedenklich ist. Einen ersten Anhaltspunkt für einen bedenklichen Alkoholkonsum vermitteln die Grenzwerte der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Diese liegen täglich bei 12 g für Frauen und bei 24 g für Männer. Darüber hinaus sollte an mindestens 1 bis 2 Tagen pro Woche gar nicht konsumiert werden. Treten durch den Konsum akut oder schleichend körperliche oder psychische Folgeprobleme oder ein sogenannter „Kater“ auf, ist die Trinkmenge zu hoch. Ebenso wird es bedenklich, wenn Alkohol immer öfter als kurzfristiger Problemlöser eingesetzt wird, um z. B. Gedanken abzuschalten, unangenehm erlebte Gefühle wie Ärger, Angst oder Traurigkeit zu verdrängen, sich zu entspannen oder schneller einschlafen zu können. Auf diese Weise verlassen sich die Betroffenen zunehmend auf den Konsum als Regulator und setzen keine oder weniger alternative Strategien zur Problembewältigung ein. Dies erhöht nach und nach den Stellenwert des Alkoholkonsums und führt dann – meist schleichend – über einen zunehmend schädlichen Konsum in eine Abhängigkeit. Zudem türmt sich oft ein Berg nicht gelöster Probleme auf, welcher im Sinne eines Teufelskreises weiteren Konsum begünstigt. Dies gilt im Übrigen nicht nur für Alkohol; ähnlich sieht es bei anderen Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial aus.
Frau Dr. Mahlmeister
Ein problematischer Alkoholkonsum wird meist zuerst von den Angehörigen oder guten Freunden bemerkt, welche die betreffende Person aber in den seltensten Fällen auf ihr Alkoholproblem ansprechen. So trinkt der Betroffene beispielsweise in Gesellschaft drei Bier, während Freunde nur eines konsumieren. Oder er gönnt sich beinahe täglich eine Flasche Bier oder ein Glas Wein zur Entspannung nach einem anstrengenden Tag oder als Belohnung für etwas, das gut gelaufen ist. Obwohl der gesteigerte Konsum für Außenstehende klar ersichtlich ist, wird das Trinkverhalten vom Betroffenen selbst verharmlost und bagatellisiert.

Wie entwickelt sich aus einem problematischen Konsum eine Alkoholsucht?

Frau Dr. Mahlmeister
Die Entwicklung einer Alkoholsucht verläuft schleichend und resultiert aus der immer stärker werdenden Dominanz des Alkohols. Über kurz oder lang kommt es zum täglichen Konsum und der Körper gewöhnt sich an den Alkohol (Toleranzentwickung), so dass immer größere Alkoholmengen benötigt werden, um noch dieselbe Wirkung zu verspüren. Oft tritt ein Kontrollverlust auf, die Beschaffung nimmt immer mehr Zeit in Anspruch und führt zur Vernachlässigung anderer Interessen. Bei einer längeren Trinkpause kommt es zu Entzugserscheinungen, die in vielen Fällen durch den erneuten Griff zur Flasche gelindert werden, unabhängig davon, ob durch den Alkoholkonsum bereits Folgeschäden aufgetreten sind. Die Dunkelziffer aller von einem riskanten oder abhängigen Alkoholkonsum betroffenen Menschen ist enorm.

Lässt sich ein abhängiger Alkoholkonsum allein durch den Willen beenden?

Frau Dr. Mahlmeister
Durch das zunehmende Verlangen nach Alkohol und den häufig vorhandenen Kontrollverlust reicht der freie Wille nicht aus, um mit dem Trinken aufzuhören. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil viele Alkoholiker ihre Sucht nicht wahrhaben möchten.
Herr Dipl. Psych. Winter
Wichtig ist es, Schritt für Schritt ein Problembewusstsein zu entwickeln und eine Motivation zu einer Veränderung aufzubauen. Hierbei sind willentliche Entscheidungen wichtig und notwendig, vor allem auch, um professionelle Hilfe anzunehmen und den Weg aus der Abhängigkeit gemeinsam mit spezialisierten Ärzten und Therapeuten zu beschreiten. Ganz allein ist dies nämlich schwierig bis nahezu unmöglich, da bei den Entzugssymptomen ein ziemlich starker Suchtdruck entsteht und ein erneuter Konsum die Entzugssymptome lindern würde. Wenn es darum geht, mit dem Trinken aufzuhören, ist suchtmedizinische Hilfe besonders wichtig, da die Entzugskomplikationen auch gefährlich werden können.

Welche körperlichen Folgen haben eine Alkoholsucht bzw. ein Alkoholmissbrauch?

Frau Dr. Mahlmeister
Ein erhöhter Alkoholkonsum macht sich meist zuerst durch eine Veränderung der Laborwerte / Leberwerte bemerkbar. Im fortgeschrittenen Verlauf können Schädigungen von Leber, Bauchspeicheldrüse oder Magen-Darm-Trakt auftreten. Ebenso verändern sich die Fließeigenschaften des Blutes, da die Gerinnungszellen durch Alkohol verringert werden, so dass größere Verletzungen zu einem starken Blutverlust führen können. Ebenso häufig sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Nervenschäden wie Demenz oder Polyneuropathie. Psychisch können sich ein Alkoholmissbrauch oder eine Alkoholsucht durch Depressionen und Angststörungen bemerkbar machen. Welche Schäden wann und bei wem auftreten, ist allerdings völlig individuell. So kann jemand bereits nach kurzer Zeit die ersten Beeinträchtigungen durch Alkohol bemerken, während ein langjähriger Alkoholkranker selbst nach jahrelangem Konsum noch vergleichsweise fit sein kann.

Weshalb ist Alkohol für Jugendliche besonders gefährlich?

Frau Dr. Mahlmeister
Alkohol kann bei Kindern und Jugendlichen zu gravierenden Schäden führen. Dies liegt zum einen am Abbau von Alkohol, der in jungen Jahren in der Leber enzymatisch noch nicht so verarbeitet werden kann wie bei Erwachsenen. Zum anderen ist die neuronale Entwicklung in der Pubertät noch nicht abgeschlossen und kann durch Ethanol massiv und dauerhaft beeinträchtigt werden.

Wie riskant ist Cannabis wirklich?

Frau Dr. Mahlmeister
Die Risiken des THC-Konsums werden viel zu häufig unterschätzt und verharmlost, denn die gesundheitlichen Folgen sind verheerend. Dies liegt in erster Linie daran, dass sich die Droge stark verändert hat und vielfach konzentrierter und potenzierter ist als noch vor 20 Jahren. Dies gilt ebenfalls für die Beimischungen. Je eher der Konsum anfängt, desto größer sind die Folgeschäden, die von kognitiven Einbußen bis hin zu Cannabis-Psychosen reichen. Wer in der frühen Pubertät mit dem Kiffen beginnt, kann bereits Anfang 20 derart beeinträchtigt sein, dass ein eigenständiges Leben oder das Erlernen eines Berufes nicht mehr möglich ist. Solche Fälle erleben wir leider zuhauf in unserer Klinik, so dass die positiven Eigenschaften der Cannabis-Pflanze die Gefahren durch den Konsum bei weitem nicht aufwiegen.

Was raten Sie den Eltern jugendlicher Cannabiskonsumenten?

Frau Dr. Mahlmeister
Eltern, die bemerken, dass ihr Kind Cannabis konsumiert, sollten so schnell wie möglich gegensteuern und das Suchthilfesystem in Anspruch nehmen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für Cannabis, sondern auch für alle anderen Suchtstoffe. Grundsätzlich sind aber nicht nur die Eltern gefragt, sondern das gesamte gesellschaftliche System. Kinder und Jugendliche sollten frühstmöglich über die Gefahren von Cannabis aufgeklärt werden, am besten bereits in der Grundschule. Dazu gehört es zum Beispiel, über die Risiken und Folgen von Nikotin zu informieren, da dieses für viele Jugendliche zur „Einstiegsdroge“ für Cannabis wird. Wer nicht raucht, ist in puncto Cannabiskonsum viel geringer gefährdet als nikotinabhängige Jugendliche.

Wie reduziere ich suchterzeugende Medikamente?

Frau Dr. Mahlmeister
Suchterzeugende Medikamente in Eigenregie abzusetzen, ist nicht nur qualvoll, sondern auch gefährlich. Selbst wenn die Dosis schrittweise reduziert wird, treten Ängste und Depressionen auf, die den Entzug deutlich erschweren können. Im Falle eines Benzo-Entzugs ist meist ein Krampfschutz erforderlich, der ambulant nur schwer zu leisten ist. Schließlich muss der Patient rund um die Uhr ärztlich überwacht werden, um ihn rechtzeitig behandeln zu können. Darüber hinaus bietet der stationäre Entzug in einer Klinik einen suchtfreien Raum, in dem sich der Betroffene ausschließlich auf sich selbst und seine Behandlung konzentrieren kann.
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